NÜRENSDORF
/ Ein Jumbolino stürzt unterhalb der Waldhütte ab –
erste Eindrücke wenige Minuten nach dem Unglück
Wenn das Undenkbare vor der Haustür
geschieht
Die Heckflosse ragt zwischen den Bäumen
hoch in die Nacht. Wie ein apokalyptisches Mahnmal schimmert das rotweisse
Crossair-Logo deutlich zwischen den Stämmen durch.
Urs Wegmann
Es schneit. Die Scheinwerfer der Rettungskräfte
leuchten in den Wald. Das grelle Licht wird verstärkt durch den
Schnee und den Rauch, der aus den Wrackteilen zieht und sich in den
Baumkronen verflüchtigt.
Hier hat sich vor wenigen Minuten ereignet, was
zwar statistisch möglich, aber trotzdem undenkbar schien; verdrängt,
weil es nicht sein konnte und sein durfte, dass so nah am eigenen Wohnort
ein Flugzeug abstürzt, zum dritten Mal innert zwei Jahren: am 10.
Januar 2000 die Crossair in Nassenwil, am 26. Mai 2000 eine Piper in
Rümlang und jetzt direkt vor der eigenen Haustür. Täglich
fliegen die Maschinen über die Köpfe der Menschen, die um
den Flughafen wohnen, donnern beim Starten über die Häuser
und rauschen beim Landen. Und jetzt ist es wieder passiert. Zu früh
und zu tief, nur noch wenige Kilometer vor dem Flughafen stürzte
das Flugzeug in den Wald zwischen zwei Hügel, zwischen die Walishalden
und den Geissbühl.
***
200 Meter unterhalb der Bassersdorfer Waldhütte
liegen die verbogenen Trümmer oder stecken im weichen Boden. Im
beliebten Naherholungsgebiet bilden sich erste Suchtrupps, denn es hat
Überlebende gegeben. Feuerwehrleute, Polizisten, Sanitäter
und einige freiwillige Helfer aus der Bevölkerung gehen die Kieswege
auf und ab, zünden mit Taschenlampen ins Unterholz, in der Hoffnung,
keine weiteren Leichen, sondern Lebende zu finden.
Einer der Freiwilligen ist der 25-jährige
Kevin Hey, der in der Nähe einige Kollegen besucht hat. Es ist
nicht der erste Flugzeugabsturz, den er erlebt. Er wohnte nur 100 Meter
entfernt als vor Jahren in Kloten eine Cessna in ein Wohnhaus geflogen
ist. «Mir war sofort klar, dass ich hier helfen muss», sagt
er. Mit zwei Kollegen versucht er den Rettungsmannschaften bei der Suche
nach Überlebenden zu helfen, die vielleicht verletzt und verstört
durch den nächtlichen Wald irren, Hilfe suchen, frieren und nicht
wissen, wo sie sind: Sie sind in Bassersdorf, 200 Meter von der Ortsgrenze
zu Nürensdorf, 900 Meter hinter dem Restaurant «Kreuzstrasse»
in Birchwil, das sie eben überflogen haben.
Während an der Absturzstelle die Such- und
Rettungsarbeiten vorangetrieben werden, füllt sich die «Kreuzstrasse»
bis auf den letzten Platz. Eben noch wurden in der Gaststätte zwei
Personen verarztet, die den Absturz überlebt hatten. Im Wirtshaus
drängen sich Rettungskräfte und Journalisten. Einige Gäste
sitzen noch am Tisch. Einer will den Absturz gesehen haben. «Zweimal
sah ich es hell aufleuchten im Wald», sagt er. Wirt Rolf Bischoff
hat weder etwas gesehen noch gehört. Es sei eben lärmig gewesen
bei ihm im Restaurant. «Dann hat es in der ganzen Gegend verbrannt
gerochen.»
***
Das Säli und das angebaute Zelt werden zur
Informationszentrale umfunktioniert. Birchwil steht im Zentrum des internationalen
Medieninteresses. Der Nürensdorfer Gemeindepräsident Franz
Brunner und sein Bassersdorfer Amtskollege Franz Zemp geben Interviews.
Die Polizei informiert, dass noch immer Überlebende gesucht werden.
Ein Gebiet von Gerlisberg bis Bassersdorf und Birchwil wird abgesperrt.
Auch Stunden später, wenn es wieder hell wird, werden noch über
ein Dutzend Menschen vermisst sein.
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Flugzeugabsturz:
Tote, Verletzte, Betroffene
Crash
kurz vor der Landung
Die
schwarze Serie von Tod und Verderben im Herbst 2001 reisst nicht ab.
Der Absturz einer Crossair-Maschine von Samstagnacht lässt die
Hoffnung auf bessere Zeiten ein weiteres Mal schwinden.
Sie
hatten das Ziel ihres 90-minütigen Fluges von Berlin nach Zürich
bereits vor Augen, die 28 Passagiere und 5 Crewmitglieder des Crossair-Fluges
LX3597. Nur sieben oder acht Minuten, so vermuten Fachleute, war die
Maschine vom Typ mit dem zungenbrecherischen Kürzel Avro RJ 100
- längst mit dem Kosenamen «Jumbolino» bedacht - von
der Piste 28 in Zürich-Kloten entfernt, wo die beiden Piloten sie
hätten landen wollen.
Doch um 22.08 Uhr verschwand LX3597 von den Radarschirmen des Kontrollturms:
Die Maschine stürzte in einem Waldstück bei Bassersdorf ab.
Als Minuten später die ersten Rettungskräfte von Polizei,
Feuerwehr und Sanität am Unglücksort eintrafen, liefen ihnen
mehrere Personen aus der Richtung des Wracks entgegen - die Überlebenden
des Absturzes, bei dem nach Polizeiangaben von gestern Abend 24 Menschen
ums Leben gekommen sind.
Urs Klemmer, Oberarzt bei der Rettungsflugwacht, war kaum von seiner
Samstagsschicht nach Hause zurückgekehrt, als man ihm den Absturz
meldete. «Sofort alarmierten wir alle verfügbaren Ärzte»,
erzählt Klemmer, der selber später auch an der Unfallstelle
war, zunächst aber das Geschehen von der in unmittelbarer Nähe
eingerichteten Patienten-Sammelstelle im Restaurant Kreuzstrasse in
Birchwil bei Bassersdorf mitverfolgte.
Die Rega stellte auch sofort eines ihrer Flugzeuge bereit, um Patienten
mit Verbrennungen allenfalls in Kliniken im Ausland zu bringen. «Verbrennungen
gelten als äusserst pflegeintensiv», so Urs Klemmer; «in
der Regel werden nicht mehr als zwei solcher Patienten im selben Spital
behandelt.» Doch die Rega-Maschine wurde nicht gebraucht.
Die
Vermissten
Die Rettungskräfte vor Ort schöpften zunächst Hoffnung:
Wenn einem aus einem Flugzeugwrack Menschen entgegenlaufen, überlegten
sie, so gibt es wohl noch weitere Überlebende. Doch der Eindruck
täuschte. Den Mittelteil des Flugzeugs trafen die Retter völlig
ausgebrannt an. Dort hatten sich die meisten der 33 Passagiere und Crewmitglieder
aufgehalten.
Unmittelbar nach dem Absturz konnten neun Verletzte geborgen werden;
zehn Todesopfer zählte man zu dieser Zeit, 14 galten als vermisst.
Gestern Abend stand indes fest, dass sie den Absturz nicht überlebt
haben.
Die
Überlebenden
Mit zum Teil schweren Verbrennungen wurden die neun Überlebenden
in die umliegenden Spitäler gebracht, unter ihnen die Surseer Werbegrafikerin
Myriam Wettstein und Jacqueline Badran, welche gestern beschrieben,
wie sie das Unglück erlebt hatten.
«Es war wie im Film», sagte Myriam Wettstein. «Es
kann gar nicht wahr sein. Es sind die Bilder, die man in allen Katastrophenfilmen
sieht.» Als das Flugzeug in den Wald abgestürzt sei, habe
sie den Kopf auf die Knie gesenkt, wie sie dies oft gehört habe.
Dann habe sie gewartet, «bis es fertig war». Sie habe gewusst:
«Vorne hat es Feuer, da kann ich nicht raus.» Im hinteren
Teil des Flugzeuges aber habe sie das rettende Loch gesehen. Myriam
Wettstein wollte so schnell wie möglich wegrennen. «Doch
da hörten wir Schreie.» Ein Passagier, der die Maschine im
selben Moment wie sie verlassen hatte, ging darauf zurück ins Flugzeug,
um jene Person zu befreien. Zur gleichen Zeit habe sie eine andere Passagierin
gesehen, die in der Nähe des Flugzeuges am Boden gelegen habe.
Mit den Worten «Komm, wir müssen weg, alles wird explodieren»,
führte sie die Frau vom Wrack der Unglücksmaschine weg.
Zur Explosion kam es nicht, was auch Jacqueline Badran half. Sie hatte
sich «sofort losgeschnallt», erzählt sie. «Vor
mir brannte es. Da habe ich mich umgedreht und gesehen, es ist frei.»
Das Heck sei abgebrochen gewesen; sie habe den schneebedeckten Waldboden
gesehen. «Dann bin ich da einfach herausgestürzt.»
Die
Betroffenen
Während gestern die unmittelbaren Rettungsarbeiten beendet und
die schweren Verbrennungen der Überlebenden behandelt wurden, zeigte
sich die Spitze der Crossair tief betroffen von dem Unglück - dem
zweiten innert zwei Jahren, das eine Crossair-Maschine betrifft: Am
10. Januar 2000 war ein Saab-Cityliner kurz nach dem Abflug in Kloten
Richtung Dresden bei Niederhasli abgestürzt; alle 10 Flugzeuginsassen
waren dabei ums Leben gekommen. «Ich bin geschockt», sagte
Crossair-Verwaltungsratspräsident Moritz Suter gestern Nachmittag.
Konzernchef André Dosé betonte, dass «momentan die
Bewältigung der Katastrophe und die Bergungsarbeiten» im
Vordergrund stünden. Erschüttert zeigte sich auch Bundespräsident
Moritz Leuenberger (siehe Text links), der gestern Nachmittag selber
die Unfallstelle besuchte.
Ein Beileidsschreiben zum Absturz der Crossair-Maschine sandte gestern
auch der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder. «Mit grosser
Trauer» habe er von dem Absturz erfahren. «Mein Mitgefühl»,
so Schröder, «gilt den Opfern und ihren Angehörigen.
Den Verletzten dieses tragischen Unglückes wünsche ich eine
raschestmögliche Genesung.»
Der Ausdruck der persönlichen Anteilnahme der Politik- und Wirtschaftsgrössen
konnte indes kaum verbergen, dass sie sich auch schwere Sorgen um die
wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Unglückes machen, welches
die Crossair «in einem schwierigen Moment» treffe, wie Dosé
sagte. Tatsächlich trifft das Unglück die Crossair just, als
sie bei den verunsicherten Kunden wieder Vertrauen gewinnen konnte.
Im November noch hatte sie die Vorjahreszahlen um 1 Prozent übertroffen;
die Gesamtauslastung lag bei rund 47 Prozent. Unmittelbarste Reaktion
auf das Unglück von Bassersdorf dürften jetzt aber - nach
dem Grounding der Swissair vom Oktober bereits zum zweiten Mal - rückläufige
Passagierzahlen sein.
Die
Diskussion
Prompt flammte gestern, nur Stunden nach dem Unglück selber, die
Diskussion um politische Hintergründe auf - auf die genau gleiche
Art wie nach dem verheerenden Brand im Gotthardtunnel vom 24. Oktober
2001. Die Piste 28, wo die Crossair-Maschine hätten landen sollen,
wird nämlich erst seit wenigen Wochen für Flüge zwischen
22 und 6 Uhr benutzt, dies wegen des neuen Staatsvertrages zwischen
der Schweiz und Deutschland. So forderte SVP-Präsident Ueli Maurer
die gründliche Überprüfung der Anflugverfahren, «und
zwar auch hinsichtlich möglicher Folgen von politischen Fehlentscheiden
durch das Luftverkehrsabkommen mit Deutschland».
Dezenter gaben sich CVP und FDP, welche die «neue» Airline
der Schweiz mit «zusätzlichen Sicherheitsfragen belastet»
sehen, wie auch die SP, die trotz des Unfalles die Umsetzung der neuen
Airline forderte.
Bundespräsident Leuenberger verwahrte sich umgehend gegen «politische
Unterstellungen». Nach der fünften Katastrophe in diesem
Herbst mahnte er zum Zusammenhalt; man dürfe jetzt nicht die Hoffnung
verlieren.
Fredy
Gasser
Quelle: Internet